Die Enthüllungen des ehemaligen NSA-Mitarbeiters und US-amerikanischen Whistleblowers Edward Snowden im Sommer 2013 saßen wie ein tiefer, schmerzhafter Stachel.
Die wunderbare Welt der Nullen und Einsen, in der scheinbar alles funktioniert und deren Unternehmen sich spielerisch zu unglaublichen Börsenwerten entwickeln, wurde wie durch ein Erdbeben erschüttert. Und auf einmal wurde bewusst: das Ganze hat auch eine Schattenseite!
Seitdem spricht man in den Medien fast ausschließlich über den Datenschutz: Schützt mich! Da frage ich mich immer: Vor wem eigentlich? Und: Gibt es nicht viel relevantere Gefahren in der digitalen Welt, über die wir sprechen sollten?
Ich möchte heute einen Beitrag dazu leisten die Spreu vom Weizen zu trennen und die wirklichen Gefahren der Digitalisierung aufzeigen. Voraussetzung dabei ist, die digitalen Spielregeln zu verstehen.
Wenn wir uns die letzten 10 Jahre der Digitalisierung im Vogelflug anschauen, können wir die digitale Entwicklung auf 7 Spielregeln reduzieren:
1. Vermessung: Zuerst haben Suchmaschinen-Firmen wie Google & Co. die unendlich vielen digitalen Web-Inhalte auffindbar und bewertbar gemacht. Zudem wurde die Erdoberfläche, die Tiefsee, das Weltall und unendlich viele Publikationen seit der Zeit von Johannes Gutenberg digital vermessen. Wie selbstverständlich kann fast jeder Mensch kostenfrei auf all dieses Wissen bequem von zu Hause oder unterwegs aus zugreifen.
2. Vernetzung: Im Facebook-Zeitalter fingen wir an, uns über den Erdball zu vernetzen und alte Schulfreunde wiederzufinden. Mehr als 2 Milliarden Menschen sind weltweit in sozialen Netzwerken registriert und produzieren unglaublich viele Inhalte, die sie mit ‚Freunden‘ teilen, die sie teilweise gar nicht persönlich kennen. Darüber hinaus vernetzen wir analoge Gegenstände und Prozesse mit dem Internet durch immer schneller werdende Micro-Chips, die mittlerweile so klein sind wie eine 1-Cent-Münze. Wir nennen dies INTERNET DER DINGE oder im industriellen Bereich INDUSTRIE 4.0.
3. Verbreitung: Mit der Erfindung des legendären iPhones von Apple Anfang 2007 begann eine exponentielle Verbreitung von digitalen Inhalten. Dem visionären Steve Jobs gelang es die komplexe Welt der Digitalisierung haptisch-spielerisch in ein Endgerät zu packen, welches wir immer bei uns tragen wollen. Über diese Endgeräte werden jeden Tag milliardenfache Daten produziert. Dasselbe tun Wearables, digitale Kleidungsstücke, private Drohnen etc. Im Jahre 2014 gingen ca. 1,4 Mrd. Smartphones und Tablets weltweit über den Ladentisch (Quelle: Gartner Inc.: 'Forecast: PCs, Ultramobiles and Mobile Phones, Worldwide, 2011-2018, 4Q14 Update', Januar 2015). Das sind so viele Endgeräte wie in 37 Jahren zuvor PCs verkauft wurden.
4. Verdichtung: Es entstehen Billionen von Datensätzen. Wir nennen das BIG DATA: Noch nie hatte die Menschheit so viele Daten zur Verfügung. Und dennoch wissen viele Unternehmen nichts damit anzufangen. Nach einer Studie der Unternehmensberatung McKinsey werden von Firmen tw. nur 1% dieser digitalen Daten auch wirklich genutzt (Quelle: Studie des McKinsey Global Institutes: 'The Internet of Things: Mapping the Value beyond the Hype'. Juni 2015).
Deshalb ist die Anwendung von Algorithmen so wichtig um diese Datenmasse sinnvoll zu verdichten. Vorreiter in dieser Verdichtung ist das Handelsunternehmen Amazon, welches nicht nur eine Produkt-Suchmaschine und Handelsplattform ist, sondern durch die intelligente Verdichtung von Kaufdaten dem Käufer durch Empfehlungen ein besonderes Einkaufserlebnis vermittelt.
5. Speicherung: Wir können uns in Zeiten der Datenexplosion nicht alle drei Wochen ein neues Speichermedium kaufen. Deshalb gibt es seit geraumer Zeit die sogenannte CLOUD. In der Cloud können wir unsere Daten als Unternehmen oder als Privatpersonen, geschützt und weniger geschützt, kostenpflichtig oder kostenfrei abspeichern. Die Cloud besteht aus unzählig vielen, freiverfügbaren Serverkapazitäten, die über das Internet angesteuert werden. Marktführer und Vorreiter in diesem Geschäft ist wiederum Amazon, welches schon vor vielen Jahren seine freien Kapazitäten im Markt anbot.
6. Zugriff: Wenn wir alle Inhalte weltweit in Nullen und Einsen vermessen, vernetzen, verbreiten, verdichten und speichern ist der Zugriff darauf unglaublich einfach. Wir profitieren davon jeden Tag aber wir brauchen uns nicht zu wundern, dass auch andere Interessengruppen diesen Zugriff suchen: Geheimdienste, Hacker und Kriminelle. Es ist die logische Konsequenz aus dem was wir in den letzten 10 Jahren getan haben.
7. Transparenz: Noch nie in der Geschichte der Menschheit waren derart viele Daten so einfach zugriffsbereit. Deshalb leben wir in einer wesentlich transparenteren Welt als noch vor 10 Jahren. Aus diesem Grund halte ich Teile der aktuellen Datenschutzdiskussion für überholt da sie insbesondere von Personen geführt wird, die noch in der analogen Zeit geboren sind und die digitale Welt nur zum Teil verstehen. Die jüngere Generation geht mit dem Thema viel offener um. Wir erleben gerade einen Generationswiderspruch.
Die Generation meiner Eltern ist gegen die Volkszählung 1987 auf die Straße gegangen und hat gefühlt ein ganzes Jahrzehnt gegen die Durchleuchtung des Bürgers demonstriert und diskutiert. Wegen 18 Angaben zur eigenen Person! Die Generation ihrer Enkel und Kinder stellt im Gegensatz dazu einen Teil dieser Daten schon bei der Anmeldung auf soziale Netzwerke freiwillig Unternehmen zur Verfügung, die die Daten in anderen Ländern mit anderer Rechtsprechung abspeichern. Das persönliche Tagebuch wird in diesen Netzwerken als Text, Foto oder Video freiwillig der Weltöffentlichkeit zur Verfügung gestellt.
Die junge Generation verfällt der digitalen Selbstdarstellung und fühlt sich dabei prächtig und die ältere Generation hat Angst davor. Können wir 2 Mrd. Menschen weltweit wirklich verbieten ihre eigenen Daten in sozialen Netzwerken zu veröffentlichen? Natürlich nicht. Es ist eben Ansichtssache.
Mit den neuesten Smartphones bewaffnet, ziehen wir durch die Straßen und halten alles fest. Wir zählen weltweit mittlerweile fast 3 Mrd. selbsternannte ‚Journalisten‘. Aber wehe wenn das Google- oder Microsoft-Auto die Straßen vermisst. Das finden wir unglaublich störend. Und dann sprechen wir über den Datenschutz: Die Politiker müssen uns schützen! Schützen? Vor wem eigentlich? Doch nicht vor uns selbst und unserer eigenen Digitalisierungsmanie?!
Als Google vor vielen Jahren in Italien auf Google Maps die Luftbildfunktion einführte, war der Aufschrei im Lande groß. Was war passiert? Mit einem Schlag konnten die italienischen Finanzbehörden überprüfen wer in Italien ein legales und wer ein nicht genehmigtes Schwimmbad im Garten hatte! Dieses Vergehen wurde mit einem Mal und unwiderruflich publik und natürlich gab es einen kleinen Gesellschaftskreis, der sich nur zu gerne hinter dem Deckmäntelchen des Datenschutzes versteckt hätte, um die ‚bösen‘ Digitalunternehmen anzuprangern, die diese Daten ohne zu fragen liefern. Wir können eine derartige Transparenz – wenn auch in diesem Falle zufällig entstanden - nur begrüßen. Oder sollen wir etwa die illegalen Schwimmbadbesitzer ‚schützen‘?!
Dieselbe Diskussion ergibt sich bei Unternehmen wie Amazon: Viele Kunden vertrauen Amazon wissentlich einen Großteil ihrer Kaufgewohnheiten an, damit sie im Gegenzug in den Besitz einer angenehmen und schnellen Nachhause-Lieferung kommen sowie interessante Produktempfehlungen erhalten. Wollen wir die vielen zufriedenen Kunden dieser Dienstleistung wegen des angeblichen Datenschutzes entmündigen?
Deshalb sollten wir uns immer so objektiv wie möglich die Frage stellen: Welche Transparenz ist willkommen und welche Daten können und wollen wir wirklich schützen?
Lasst uns nun über die wirklichen Gefahren der Digitalisierung sprechen:
Cybercrime & Cyberwar: The time of the happy hacker is over!
Im April 2015 veröffentliche der IT-Verband Bitkom eine ernüchternde Studie für Deutschland: Über 1.000 befragte Unternehmen schätzten den Verlust durch Cyberangriffe auf insgesamt 51 Milliarden Euro jährlich (Quelle: Süddeutsche.de, 16.04.2015 zum Thema 'Cyberkriminalität'). In unserem Land wird der Patentschutz zunehmend durch Cyberattacken unterlaufen. Die Diskussion um die Enthüllungen Edward Snowdens zeigt uns, dass nicht nur Geheimdienste den einfachen Zugriff auf Daten ausnutzen. Es geht längst nicht mehr nur noch um sicherheitspolitische Erkenntnisse, sondern um versteckte Industriespionage.
Nachdenklich stimmte mich eine Podiumsdiskussion auf einer bekannten Digitalkonferenz Anfang 2013: Eugene Kaspersky und Mikka Hypponen, zwei weltweit anerkannte Sicherheitsexperten diskutierten die Gefahren in der digitalen Welt. Sie erklärten, dass die ‚guten‘ Hacker immer mehr durch professionelle Hacker mit krimineller Energie abgelöst würden: ‚The time oft the happy hacker is over‘. Und dann holten sie zum großen Schlag aus und es verschlug der zuhörenden Digital-Elite den Atem.
Sie sprachen über die Cyberviren ‚Red October, ‚Flame‘, ‚Madi‘, ‚Gauss‘, und ‚Stuxnet‘, welche u.a. das iranische Atomprogramm lahmlegten, an der Ostküste Amerikas 2003 den Strom ausfallen ließen, Saudi-Arabische Ölplattformen befielen und amerikanische Medienunternehmen und Banken ausspähten. Der Zuschauer hatte das Gefühl inmitten eines Agenten-Thrillers zu sitzen. Am Ende der Diskussion fragte Eugene Kaspersky dann die Zuschauer provokativ: ‚Was nuclear power in Germany switched off because of Fukushima or because of Stuxnet?‘ und spielte darauf an, dass er nicht genau wisse, ob nach der atomaren Katastrophe in Japan im Jahre 2011 einige deutsche Atomkraftwerke von der deutschen Politik oder vielleicht von einem Virus ausgeschaltet wurden.
Beide Experten erwarteten, dass wir in weiter Zukunft keine konventionelle Kriege sondern ‚Cyberwars‘ führen werden, in denen professionelle Hackertruppen und autonom operierende, intelligente Roboter sich gegenüber stünden. Sie forderten Politik und Wirtschaft auf, diese Gefahren sehr ernst zu nehmen und zu bekämpfen.
Kürzlich folgte ich einem Vortrag von Prof. Jürgen Schmidhuber, Direktor des Schweizer Forschungsinstituts für Künstliche Intelligenz ‚IDSIA‘. Schmidhuber ist einer der weltweit anerkanntesten Experten auf dem Gebiet der KI. Er erklärte, dass die selbstlernenden Roboter seiner Forschungsabteilung, noch nicht ganz auf dem Niveau von Gehirnen einfacherer Tiere arbeiteten. Aber es sei nur eine Frage der Zeit bis dieses Niveau erreicht würde und es dann sehr schnell ginge bis die Fähigkeit eines menschlichen Gehirns abgebildet werden könnten.
Er rechnet damit, dass seine Kinder, die um die Jahrtausendwende geboren sind, den Großteil ihres Lebens in einer Welt leben werden, in der die intelligentesten und wichtigsten Entscheider auf der Erde nicht Menschen, sondern Roboter sein werden!
Nach diesem Vortrag habe ich verstanden warum Tesla- und SpaceX-Gründer Elon Musk kürzlich mehr als 1 Mrd. US $ in das ‚Future of Life Institute‘ und in das selbst gegründete Unternehmen ‚Open AI‘ steckte, um die menschenfreundliche Entwicklung der KI mitzugestalten und dieses Feld nicht einigen wenigen Großunternehmen zu überlassen. An Elon Musks Seite stehen dabei nicht nur Microsoft-Gründer Bill Gates und Forscher-Ikone Prof. Stephen Hawking, sondern einige Tech-Milliardäre aus dem Silicon Valley, die ebenfalls die potentielle Gefahr der KI erkannt haben.
Die tatsächliche Bedrohung durch die KI wird heiß diskutiert: Yoshua Benio, Professor für Computerwissenschaften an der Universität in Montreal, gab gerade erst ein Interview im ,MIT Technology Review‘, in dem er die Grenzen der KI aufzeigt und deren zügiger Entwicklung in Richtung tierischer und menschlicher Gehirne anzweifelt.
Wie auch immer ist der verantwortungsvolle Umgang mit der KI im Sinne der Menschheit eine der wesentlichen Herausforderungen, die vor uns steht. Nicht nur unsere eigene Entscheidungsgewalt, sondern auch Millionen von Prozess- und Produktionsarbeitsplätzen stehen auf dem Spiel! Außerdem wollen wir sicherlich kein Gesellschaftssystem schaffen, in dem menschliche Emotionen, Kreativität und soziale Kontakte nur noch eine untergeordnete Rolle spielen.
Wäre die Digitalisierung ein Buch dann hätte es 500 Seiten und wäre derart spannend, dass wir es in einer Nacht durchlesen würden. Würden wir alle dieses Buch lesen, hätten wir uns digitales Wissen angeeignet. Leider bleiben wir hierzulande nach Seite fünf hängen und beschäftigen uns seitdem fast ausschließlich mit dem Thema Datenschutz. Wir haben mal wieder Angst und diese hemmt uns derart, dass wir die anderen 495 Seiten des Buches verpassen. Interessensgruppen wie die traditionellen Medien schüren diese Angst gerne, um für höhere Auflagen zu sorgen. Und auf denselben Zug schwingt sich dann auch gerne die Politik denn es geht ja um den Zugewinn von Wählerstimmen.
Die hier beschriebene Gefahr besteht im Verpassen von Chancen, dem Nichterkennen von Innovationen und der Nichtteilhabe an wichtigen Entwicklungen. Diese Gefahr ist m.E. viel größer als die Möglichkeit des Datenmissbrauchs. Ich kann nur hoffen, dass sich das in unserem Land ändert!
1. Bildung: Erst einmal sollten wir das ganze Buch der Digitalisierung lesen. Das bedeutet, dass wir uns dem Thema öffnen und in Schulen, in Parteien und vor allem in den Chefetagen unserer Unternehmen aufklären und fortbilden müssen. Mit unserer tradierten Denkweise bilden wir sonst eine Generation von Arbeitslosen und verpassten Chancen aus.
2. Förderung: Wir sollten digitale Innovation, viel stärker in Deutschland fördern und Talente aus Forschung und Wirtschaft auch aus dem Ausland an unseren Standort binden. Hier ist vor allem die Politik und Gesetzgebung gefragt.
3. Schutz: Um uns vor den wirklichen Gefahren zu schützen, sollten wir in drei Bereichen tätig werden: Den User über nützliche Schutz-Software informieren und zu dessen Kauf aufrufen. Die Industrie auffordern selbständig eigene Sicherheitsstandards zu definieren und umzusetzen. Die Politik auf nationaler und europäischer Ebene anmahnen sinnvolle Schutzrichtlinien zu erlassen, um a.) den ehrenwerten Umgang mit den Daten seiner Bürger sicherzustellen, b.) nationale Industrien vor Industriespionage und Cyberattacken zu schützen und c.) dem möglichen Wildwuchs von künstlicher Intelligenz entgegenzuwirken.
Veröffentlicht am Feb 5, 2016 von Christian Baudis