Wenn wir von angewandter Neurowissenschaft sprechen, also dem Einsatz neurowissenschaftlicher Methoden in Studien, die nicht primär einem wissenschaftlichen Zweck dienen, dann dreht sich die Diskussion – Stand November 2016 – meist um eines von zwei Themen.
Zunächst einmal werden neurowissenschaftliche Ansätze vermehrt in der Diagnose und Therapie von Krankheiten und Störungen, also in der Medizin eingesetzt. Bei der Abklärung von Alzheimer, dem Aufspüren von Hirntumoren, der Diagnose von Migräne, Epilepsie und einer ganzen Reihe weiterer gesundheitlicher Probleme gehören neurowissenschaftliche Methoden mittlerweile mehr oder weniger zum Standard der modernen Diagnostik, auch wenn sich natürlich nicht jede Praxis ein eigenes fMRT leisten kann.
Auch erste Therapieansätze, beispielsweise in Form des sogenannten Neurofeedbacks, bei dem das Hirn anhand von Biosignalen lernt bestimmte Gedanken und Verhaltensweisen zu zeigen oder zu unterlassen, werden mittlerweile erprobt und weisen zum Teil bemerkenswerte Erfolge auf, beispielsweise bei der Depressionsbehandlung.
Der andere Bereich, in dem sich neurowissenschaftliche Ansätze zunehmend etablieren, ist das Marketing.
Zahlreiche Studien der frühen 2000er Jahre konnten zeigen, dass beispielsweise starke Marken für eine "kognitive Entlastung" sorgen, was bedeutet, dass im Angesicht starker Marken weniger Verarbeitungsleistung erforderlich ist, um zu einer Entscheidung zu kommen. Man konnte zeigen, dass starke Marken tatsächlich jene Bereiche des Gehirns rekrutieren, die aus der Emotionsverarbeitung bekannt sind, dass Marken also im Kern emotional sind, und man konnte zeigen, dass es mit geeigneten neurowissenschaftlichen Methoden möglich ist, den Erfolg von Werbung vorherzusagen – Jahre im Voraus und zuverlässiger, als mit anderen Methoden der etablierten Marktforschung.
Es wundert daher nicht, dass man immer mehr Unternehmen begegnet, die standardmäßig auf Ansätze der angewandten Neurowissenschaft, sogenanntes Neuromarketing zurückgreifen.
Die Neurowissenschaft hat jedoch weitaus mehr zu bieten, als "nur" eine genaue Vorhersage der Werbewirksamkeit. Viele Entwicklungen zeichnen sich schon heute ab, beziehungsweise haben bereits begonnen. Über diese Ansätze – diese Trends, wenn man so will – möchte ich heute sprechen.
Bereits seit 2014 experimentieren verschiedene Arbeitsgruppen damit, das neurowissenschaftliche Paradigma so weiterzuentwickeln, dass die Datenerhebung nicht mehr ans Labor gebunden ist. In den letzten zwei Jahren wurden die entsprechenden Studien veröffentlicht und die ersten kommerziellen Anwendungen durchgeführt.
Die Ergebnisse waren vielversprechend.
Es steht zu erwarten, dass sich nun, da die Saat gepflanzt ist, die Pflanze schnell entwickeln wird, sprich: Man erwartet für 2017 einen deutlichen Anstieg in der Nachfrage nach neurowissenschaftlichen Anwendungen für den stationären Einzelhandel. Ob es sich dabei, ganz klassisch, um mobile EEG Untersuchungen oder doch eher indirekte Methoden wie das Messen von Hormonkonzentrationen anhand des abgesonderten Schweißes handelt, eine Methode, die vor allem für den Einsatz in Sportstadien und Kinosälen entwickelt wurde, sei dahingestellt. Der Grundsatz ist der gleiche: Die Schwelle des Labors wurde überschritten. Entscheidungsrelevante Prozesse können nunmehr überall erfasst werden – daheim, beim Einkauf vorm Rechner, oder um die Ecke im nächstgelegenen Supermarkt.
Neuromarketing ist in der wirklichen Welt angekommen.
Wie oft habe ich den letzten drei Jahren gehört, "online- und offline sind für den Kunden eins!" Soll heißen: Egal ob Online oder Offline, die Botschaft - auch die implizite - muss die gleiche sein, natürlich angepasst auf die Begebenheiten. Und genau hier kommt Neuromarketing ins Spiel.
Immer wieder begegne ich digitalen Anwendungen und Marketingmaßnahmen, die aufwendig und mühsam in den stationären Einzelhandel integriert wurden - die dann aber niemanden interessieren. Beispielsweise die digitale Warenanzeige direkt am Eingang einer Boutique in Berlin, sodass jeder Nutzer im Weg steht. Neuromarketing kann helfen, dass Online-Marketing und Offline-Marketing besser verzahnt werden und dass die Wirksamkeit dieser Maßnahmen messbar wird.
Bislang ist Neuromarketing zumeist auf Marktkommunikation gerichtet. Auf eine Kommunikation nach außen, bei der es darum geht potenzielle Kunden zu erreichen (Aufmerksamkeit) und zu überzeugen (u.a. Emotion und Motivation).
Aber auch unternehmensintern gibt es eine ganze Reihe unterschiedlicher Kommunikationsprozesse, die effektiv funktionieren müssen um einen reibungslosen Betriebsablauf zu gewährleisten. Unternehmenskennzahlen, zum Beispiel. Je schneller und effektiver ein Mitarbeiter Probleme erkennt, umso schneller kann er reagieren und gegebenenfalls Maßnahmen ergreifen, um kontrollierend einzuwirken.
Solche Kommunikationsprozesse erfolgen aber noch viel zu oft auf der Grundlage von Tabellen und nicht-aggregierten Daten.
Neurowissenschaftliche Untersuchungen können hier dabei helfen, diese Kommunikationsprozesse zu optimieren, in dem sie aufzeigen, an welchen Stellen die Informationsverarbeitung seitens des Rezipienten eventuelle aussetzt, wo Aufmerksamkeitsdefizite begünstigt werden und wann schlicht Langeweile oder, schlimmer noch, Überforderung aufgrund von der Informationspräsentation eintritt.
Hierzu später mehr.
Die interne Kommunikation wird zunehmend digitaler und web-affiner. Anders ausgedrückt: Sie richtet sich mehr und mehr nach den Prinzipien des Online-Marketings. Ich sehe hier ein zukünftiges, wenn nicht sogar schon gegenwärtiges Geschäftsfeld für Online-Marketer. Wie übrigens auch im Bereich:
"Lebenslanges Lernen", diesen Begriff hat wohl jeder schon einmal gehört und je weiter man in seiner individuellen Karriere fortgeschritten ist, desto wahrscheinlicher gehören Fortbildungen zum Arbeitsalltag. Da aber jede Fortbildung für Unternehmen zumindest kurzfristig effektiv einen doppelten Verlust bedeutet – der Lehrer und das Lehrmaterial müssen bezahlt werden und zudem fällt für die Dauer der Fortbildung eine Arbeitskraft aus – besteht offenbar ein großes Interesse daran, Fortbildungen zukünftig so effektiv wie möglich zu gestalten.
Ein Weg, dies zu tun, sind eLearning Plattformen.
eLearning hat gegenüber traditionellem Unterricht mehrere Vorteile: Die Lernenden können selbst ihr Lerntempo und ihre Zeiteinteilung bestimmen, das heißt sie können die Unterrichtseinheiten so legen, dass möglichst wenig Arbeitsausfall droht. Zudem spart man sich einen kostenintensiven Lehrkörper – der Stoff kann, im Idealfall, selbstständig und ohne weitere Anleitung bearbeitet werden.
Dies setzt jedoch voraus, dass das Lehrmaterial entsprechend motivierend, verständlich und "lerngerecht" aufbereitet wurde – Anforderungen, die nicht immer erfüllt werden.
Genau wie es im Marketing möglich ist, mithilfe neurowissenschaftlicher Methoden die gesamte Customer Journey in Bezug auf ihren (kauf-)motivierenden Einfluss hin zu untersuchen, so ist es möglich eine eLearning Plattform auf Sequenzen hin zu untersuchen, während derer das Lernen schwerer fällt. Anhand einer Stichprobe wird mittels EEG erfasst, an welchen Stellen der Fortbildung die Lernenden Schwierigkeiten haben, ihre Aufmerksamkeit nachlässt oder sie überfordert werden. Diese Informationen können dann wiederum genutzt werden, um die Plattform zu verbessern und ein insgesamt erfolgreicheres, motivierteres Lernerlebnis zu gestalten.
Erste Versuche in diese Richtung wurden bereits unternommen und es wird erwartet, dass 2017 erste Praxistests erfolgen werden.
Auch hier, im Bereich Fortbildung, werden mehr und mehr digitale Ressourcen genutzt. Auch hier werden Anbieter zukünftig mehr und mehr von Online-Marketern profitieren.
Stress entsteht, wenn wir subjektiv das Gefühl haben nicht mehr Herr der Situation zu sein – und das hat sehr negative Folgen. Nicht nur die Arbeitsqualität leidet, wenn wir unter Stress Entscheidungen treffen müssen, die Folgen für die Gesundheit des Betroffenen könnten dramatischer kaum sein. Kein Wunder, dass jedes Jahr Millionenbeiträge in stressreduzierende Maßnahmen investiert werden.
Neben der Optimierung von auch internen Kommunikationsmaßnahmen, die weiter oben bereits erwähnt wurde, ist es ein weiterer Ansatz, der hier vielleicht die Wende bringen kann, die Echtzeitüberwachung des Verarbeitungs- und Stresslevels.
Neurowissenschaftliche Methoden sind mittlerweile so robust und preiswert geworden – wearables sei Dank - dass sich erste Organisationen Gedanken darüber machen sie massenhaft zur Stressprävention einzusetzen. Zugegeben, der Anblick eines Managers mit Stressarmband mag im ersten Moment befremdlich wirken – aber einige Krankenkassen bieten bereits ein Monitoring über wearables zur Frühdiagnostik und Prävention an. Vielleicht wird es etwas länger dauern, als nur bis 2017, aber ich bin überzeugt davon, dass wir in naher Zukunft ein weiter verbreitetes Echtzeitmonitoring von Stressindikatoren erleben werden – verbunden mit z.B. einem Anruf, der einen zur Ruhe gemahnt, wenn der Chef einen gerade zur Schnecke macht. Gut, dieses Beispiel ist eher skurril, aber ein Manager, der kurz vor einer wichtigen Entscheidung in einem Verhandlungsgespräch noch einmal daran erinnert wird, dass sein Stresslevel gerade sehr hoch ist und dass er gerade drauf und dran ist eine vielleicht folgenreiche dumme Entscheidung zu treffen, liegt für mich im Bereich des machbaren.
Auch schon 2017.
Alles wird vernetzter. Die quantified self Bewegung war hier nur der Anfang. Ich schätze, es ist nicht mehr lange hin, bin auch die Medizin die Vorteile der Vernetzung einsetzen kann. Das wird der Moment sein, zu dem auch Online-Marketer zentrale Bausteine beizutragen haben.
Zunächst einmal heißen diese Neuromarketing Trends, dass es weitergeht, wie bisher. Die Welt wird komplexer. Digitaler. Schwerer vorherzusagen. Neuromarketing ist und wird weiterhin ein Tool bleiben, das in bestimmten Bereichen einen Beitrag zur Planung, Überprüfung und zum Management verschiedener Prozesse beiträgt. Und viele dieser Prozesse werden sich zunehmend durch ihren Grad der Digitalisierung und Automatisierung an jenen Prinzipien orientieren, die Online-Marketer schon heute nutzen.
Gezielte, zielgruppenspezifische Ansprache. Barrierefreie zugänge. Filtern. Auswählen. Entscheidungsgewalt beim Nutzer/Kunden. Die Welt wird mehr und mehr zu einem Spielplatz für Online-Marketer. Stück für Stück.
Veröffentlicht am Dec 2, 2016 von Benny Briesemeister