Das Internet hat viele Dinge revolutioniert. Ohne in den Nutzungsprozess eingreifen zu müssen, ist es auf Webseiten möglich, genau zu sehen wo der Nutzer hingeklickt hat, wie lange er sich auf spezifischen Unterseiten aufhält und wie weit er nach unten scrollt.
Unternehmen können zufällig unterschiedlich aufgebaute Seiten oder Designs ausliefern und überprüfen, welche Version die meisten Conversions generiert.
Kurz gesagt: Das Internet hat den Einkaufsprozess messbar und dadurch jederzeit optimierbar gemacht. Ein großer Vorteil für den Onlinehandel.
Ein Weg, den Einkaufsprozess messbar zu machen liegt in der Anwendung nicht konventioneller, sondern neurowissenschaftlich fundierter Marketingforschungsmethoden, die es erlauben den Einkaufsverlauf in Echtzeit nachzuvollziehen.
Auch wenn Kaufentscheidungen nachweislich von einer Vielzahl kognitiv-emotionaler Prozesse beeinflusst werden – Aufmerksamkeit, Gedächtnis, sowie vor allem der Motivation sich mit dem ausgestellten Produkt auseinanderzusetzen – so sind die meisten dieser Prozesse dank intensiver Forschung in den letzten Jahren und Jahrzehnten mittlerweile zuverlässig mess- und vorhersagbar geworden.
Es konnte beispielsweise wissenschaftlich belegt werden, dass die mittels EEG (Elektroenzephalographie) zuverlässig messbare sogenannte Annäherungsmotivation, also die Bereitschaft des Gehirns sich einem Objekt anzunähern und sich damit intensiver zu beschäftigen, stark zunimmt, wenn wir Produkte sehen, die wir mögen, benötigen oder für die wir bereit sind relativ viel Geld auszugeben (siehe hier). Zum anderen kann mit Hilfe solcher Methoden auch reales Kaufverhalten besser vorhergesagt werden, als mit herkömmlichen Befragungsmethoden.
Mit einer Kombination aus EEG und Eyetracking ist es also möglich, den Einkauf aus Sicht des Kunden, oder genauer gesagt: aus Sicht des Kundenhirns nachzuvollziehen.
Da sich die Technologie in den letzten Jahren ständig weiterentwickelt hat, ist es mittlerweile unter bestimmten Bedingungen möglich, neurowissenschaftliche Messungen auch außerhalb des Labors durchzuführen. Das Ganze sieht in der Außensicht in etwa so aus:
Abbildung 1: Eine neurowissenschaftliche Messung
...wobei man natürlich je nach Wunsch des Probanden die Elektroden unter Haaren (falls vorhanden) oder einem Hut/einer Kapuze verstecken kann.
Der eigentliche Sinn hinter mobilen neurowissenschaftlichen Messungen liegt allerdings nicht in der Außen-, sondern in der Innensicht. Durch die Methodenkombination aus EEG und mobilem Eyetracking ist es möglich, in Echtzeit zu erheben, wohin ein Kunde schaut. So können jene Marketingmaßnahmen identifiziert werden, die potenziell ihre Wirkung entfalten (und vor allem um einen Eindruck davon zu bekommen, wo Marketinggelder verschwendet werden).
Mit mobilem Neuromarketing ist es möglich, einen Teil der Informationen, die inzwischen tagtäglich im Webdesign und im e-Commerce zur Anwendung kommen, auch auf den stationären Einzelhandel zu übertragen, um sich als Unternehmen zu verbessern.
Klassischer Weise erfolgt die Optimierung von Webseiten durch A/B Testing und wo immer die Besucherzahlen es erlauben, ist dies die wahrscheinlich kosteneffizienteste Möglichkeit für zuverlässige, Daten basierte Entwicklung. Ich bin ein großer Fan von Performance-basierten A/B Tests - aber es gibt zwei Aspekte, die berücksichtigt werden sollten.
Erstens, der Faktor Zeit. A/B Testing ist vor allem dann erfolgreich, wenn es permanent als Teil der Weiterentwicklungsstrategie des Unternehmens implementiert wird. Ein einmaliges Testergebnis kann zwar aufzeigen, welches von zwei Webdesigns besser performt - ob man sich damit aber von 20 auf 25% des Potenzials steigert oder von 80 auf 85% erfährt man nur, wenn man kontinuierlich weiter probiert.
Zweitens sind A/B Tests abhängig von hohem Traffic und gerade bei vielen mittelständischen Unternehmen, deren Unternehmensseite selbst vielleicht “nur” als digitale Repräsentanz dient und nicht als e-Commerce Store fungiert, erlauben die Besucherzahlen keinen zuverlässigen A/B Test.
Viele Unternehmen haben keine tausend Zugriffe pro Tag, sodass sie zufällig Design A und Design B ausliefern und die Conversion direkt vergleichen können. Sie müssen sich auf kleine Stichproben verlassen können.
Hier kann ein Labortest die richtige Wahl sein.
Eine etablierte Möglichkeit zur Webseitenoptimierung ist es mittels Eyetracking zu schauen, wo der Blick der User hängen bleibt, um zu messen, welche Informationen verarbeitet und welche übersehen/ignoriert werden. Die Idee ist simpel: Nur, was Aufmerksamkeit generiert, ist wirkungsvoll - und ganz falsch ist diese Annahme ja nicht.
Allerdings: Aufmerksamkeit ist nicht um jeden Preis erstrebenswert.
Designelemente, die zu sehr in den Fokus der Aufmerksamkeit drängen, aus Sicht des Nutzers aber irrelevant sind, wirken sich nachweislich negativ auf das Einkaufserlebnis und damit langfristig auch auf den Umsatz aus.
In der Psychologie spricht man hier vom Distractor-Suppressor-Effekt.
In vielen Fällen kann es zudem sinnvoll sein, das Entstehen negativer Emotionen zu vermeiden. Die Webseite Booking.com etwa weist in auffällig roter Signalfarbe daraufhin, dass von bestimmten Zimmern nur noch eine geringe Anzahl verfügbar sind. Ein Stressfaktor für den Nutzer. Kurzfristig mag dies den Umsatz anheben, weil der Kunde das Gefühl hat etwas zu verpassen, wenn er nicht sofort zuschlägt.
Genügend alternative Dienstleister vorausgesetzt (und seien wir ehrlich: gerade in der Hotelbranche wimmelt es nur so von digitalen Vermittlern) kann eine solche Maßnahme jedoch langfristig nach hinten losgehen, wenn sich der Nutzer ohne solche Hinweise besser aufgehoben fühlt.
Wie immer kommt es auf das zumutbare Verhältnis an...
Abbildung 2: Booking.com setzt auf auf den Hinweis der Verknappung.
Letztlich ist es eine empirische Frage: Wie wirken die wahrgenommenen Informationen auf den Nutzer, oder genauer gesagt: das Nutzerhirn?
Ähnlich wie vom A/B Testing mit Verhaltensmaßen bekannt, sind es häufig Kleinigkeiten, die durch eine Kombination aus EEG und Eyetracking aufgedeckt werden und die den Nutzer entweder stören – eine etwas zu aufdringlich formulierte Artikelüberschrift, ein etwas zu verschachtelter Satz, ein Hintergrundbild, das zu sehr in den Vordergrund drängt – oder die ihn besonders ansprechen.
Das freundliche Lächeln eines Sachbearbeiters, dessen Profilbild neben der Telefonhotline angezeigt wird.
Eine Preisangabe, bei der erklärt wird, wie sich die Kosten zusammensetzen und was man alles mitbezahlt, wenn man das Produkt erwerben möchte.
Ein gut platziertes Markenlogo, das für Qualität steht und Vertrauen weckt.
Es sind Kleinigkeiten, kleine Stimmig- oder Unstimmigkeiten, die über den Erfolg einer Webseite entscheiden (können). Best practices helfen dabei nur wenig - oder meint jemand ernsthaft, ein roter “Bezahlen” Button würde im roten Design der Media Markt Seite eine zusätzlich negative “Warnwirkung” entfalten?
Es kommt auf den Zusammenhang an. Wer ist der Nutzer? Was möchte er erreichen? Welche Informationen braucht er hierfür und vor allem: Wann?
Durch Neuromarketing ist Erfolg am Point of Sale - zu einem gewissen Grad! - messbar und planbar geworden.
Veröffentlicht am Dec 4, 2015 von Benny Briesemeister