Online-Händler haben im Vergleich zum traditionellen Einzelhandel eine ganze Reihe spezifischer Vorteile: Sie sind jederzeit erreichbar, vom heimischen Sofa aus zugänglich, und ohne in den Kaufprozess einzugreifen, bekommen sie eine ganze Menge Informationen über das Kaufverhalten ihrer Kunden gratis mitgeliefert.
Anders als das Shopping Center um die Ecke können Onlineshops ohne großen Aufwand ihr StoreDesign ändern, beide Designs zufällig ausspielen und dann in nahezu Echtzeit kontrollieren, welche der beiden Varianten dem Kunden "besser gefällt" – sprich mehr Umsatz generiert.
Diese Form des sogenannten A/B Testings ist so im stationären Einzelhandel nicht möglich und sie ist ein mächtiges Werkzeug, das es dem Onlinehandel erlaubt, sich kosteneffizient Stück für Stück zu optimieren.
Einziger Haken: Man braucht zunächst eine gute Idee, welche Designveränderungen wirklich verhaltenswirksam sein könnten, um sie überhaupt testen zu können. Oder anders ausgedrückt, man braucht eine konkrete Hypothese.
Letzten Endes geht es bei jeder Form der Marketingforschung, zu der ich auch das A/B Testing zähle, um eine simple Frage: Was kann ich machen, um meinen Gewinn zu steigern? Egal, ob es sich dabei um eine Umsatzsteigerung oder eine Kostenreduktion handelt. Und die wahrscheinlich wichtigste Variable in dieser Gleichung ist mein Kunde. Schaffe ich es, meinen Kunden dazu zu motivieren, seinen Einkauf bei mir zu tätigen und nicht bei der Konkurrenz? Schaffe ich es überhaupt ihm einen Mehrwert zu bieten, den er geldwert erachtet? Und zuletzt: Vermeide ich die vielen kleinen Fallstricke, die verhindern können, dass aus einem Webseitenbesucher ein Kunde wird?
Die Perspektive des Kunden ist für den Erfolg eines jeden Unternehmens, egal ob online oder offline, absolut entscheidend. Mit den Mitteln der traditionellen Marktforschung ist sie jedoch nur retrospektiv und daher kognitiv verzerrt erfassbar.
Und genau an dieser Stelle setzt Neuromarketing an: Neurowissenschaftliche Methoden ermöglichen es uns, zumindest einen Teil derjenigen kognitiven und affektiven Prozesse zu erfassen, die an Kaufentscheidungen grundlegend beteiligt sind. Die auf diese Weise gewonnenen Informationen können nachweislich dazu beitragen, ein tieferes Verständnis und eine bessere Vorhersage von realen Kaufentscheidungen zu erlangen – und, wenn richtig eingesetzt, die Stärken und Schwächen von beispielsweise Webdesigns zu erkennen.
Im Ergebnis einer strategischen Partnerschaft zwischen dem neurowissenschaftlichen Marketingforschungs- und Beratungsinstitut Neurospective Berlin und der UVA Kommunikation und Medien GmbH Potsdam entstand im Frühsommer diesen Jahres eine Studie, bei der insgesamt 22 Probanden zum Online-Einkauf bei den beiden umsatzstärksten deutschen eCommerce Plattformen gebeten wurden: Otto.de, der Platzhirsch, und sein derzeit ärgster Verfolger, Zalando.de.
Die Aufgabe war simpel: "Suche Dir ein neues Paar Badelatschen und lege es in den Einkaufskorb. Außerdem wünscht sich ein guter Freund eine Brieftasche von Joop zum Geburtstag, Besorge auch diese."
Im Unterschied zu klassischen Verhaltenstests wurde nicht nur geschaut, welche Wege innerhalb der weit verzweigten Customer Journey tatsächlich genutzt und welche Seiten besucht werden. Stattdessen wurde mit Hilfe eines Eyetrackers aufgezeichnet, welche Informationen überhaupt beachtet werden und welche nicht, um in Erfahrung zu bringen, welche Elemente einer Website unter Umständen redundant sind.
Viel wichtiger jedoch war die Aufzeichnung der Hirnaktivität während des Einkaufs mittels eines mobilen EEG Geräts. Von der Messung der neuronalen Verarbeitungsprozesse erhofften sich die Wissenschaftler Aufschluss darüber, welche Informationen auf der Webseite als "Kauftreiber" fungieren und welche den Nutzer verwirren oder gar abschrecken.
Abbildung 1: Neurowissenschaftliche Messung beim Betrachten des Onlineshops.
Hier ein paar der spannendsten Entdeckungen:
Zunächst einmal ist festzuhalten, dass Frauen während des Experiments ganz grundsätzlich stärker vom Onlineshopping angesprochen wurden als Männer. Sowohl im Durchschnitt über das gesamte Experiment gerechnet als auch im Peak, also zum Zeitpunkt der größten Kauflaune. Dieser Effekt war unabhängig vom Shop und von der Aufgabe zu beobachten und repliziert bekannte Erkenntnisse der Verhaltensforschung, war also absolut zu erwarten.
Überraschend war hingegen die geschlechtsspezifische Wirkung der Auto-Vervollständigung von Otto.de.
Gab man hier den Suchbegriff "Badelatschen" ein, schlug der dahinterliegende Algorithmus automatisch verschiedene Ergänzungen vor, darunter die Begriffe "Badelatschen Frauen", "Badelatschen Herren" und "Badelatschen Männer". Ja, richtig gelesen. Sowohl für Männer als auch für Herren scheint es ein spezifisches Sortiment – oder zumindest einen spezifischen Suchbegriff zu geben.
Dass sich hinter beiden Suchbegriffen die exakt gleiche Auswahl verbirgt, tut an dieser Stelle nichts zur Sache.
Viel relevanter ist hingegen, dass sich die männlichen Probanden, die diese Doppelung entdeckten, sichtlich irritiert zeigten, was sowohl in den Eyetracking Daten (häufiges hin und her in der Blickbewegung) als auch im EEG deutlich wurde. Ein sichtbar negativer Einfluss auf die Handlungsmotivation ist die Folge.
Grund genug, den Auto-Vervollständigungsbegriff zu entfernen? Nicht unbedingt!
Im Unterschied zu Männern, die wohl nur einen kleinen Anteil der Kundschaft von Otto.de ausmachen, scheinen Frauen durch die Doppelung hochgradig belustigt, was sich in einem Anstieg ihrer Stimmung und der mittels EEG gemessenen kaufrelevanten Prozesse widerspiegelt. Humor ist bekanntlich einer der wichtigsten Kauftreiber – nur das hier der Witz auf Kosten der Männer geht.
Abbildung 2: Suchvorschläge bei Otto.de
Was soll's, Otto.de wird es verkraften. (Anmerkung: Die hier beschriebene Doppelung von Badelatschen Männer/Herren wurde offensichtlich mittlerweile von Otto.de entfernt.)
(und gut gemeint ist noch lange nicht gut gemacht...)
Ein weiterer, von meinem Blogger-Kollegen Torsten Hubert in seinem Beitrag zum Thema Zielgruppenansprache hervorragend beschriebener Aspekt im Neuromarketing ist die Frage nach der einem Kauf zugrundeliegenden Motivation – und der Möglichkeit anhand dieser Motivation verschiedene Shopper-Typen zu unterscheiden. Eine ausführlichere Einführung findet sich im kürzlich erschienenen HAUFE-Buch "Die Neuro-Perspektive" und auch beim Vergleich von Otto.de und Zalando.de spielten unterschiedliche Entscheidungstypen, bzw. -motivationen eine wichtige Rolle.
Der in Deutschland wohl am häufigsten anzutreffende Shopper, bei Torsten Hubert aufgrund der Limbic Typisierung als Balance-Typ bezeichnet, ist beispielsweise etwas unsicher in seinen Entscheidungen. Er kauft gern, was er bereits kennt, verlässt sich auf die Empfehlungen anderer und geht generell lieber auf Nummer sicher. Wie also unterstützt man den Kaufentscheidungsprozess von Balance-Typen?
Zum Beispiel indem man ihnen möglichst frühzeitig klar macht, was bei einem Kauf auf sie zukommt. Zumindest nehme ich an, dass dies der Gedankengang war, der zu folgender Implementierung führte:
Landet man bei Otto.de auf der Produktauswahlseite, also jener Ansicht, in der in drei Spalten diverse Produkte mit Bild präsentiert werden, bekommt man zunächst je ein Bild für jedes Produkt, den Namen, die Marke, den Preis und im Falle von Schuhen die möglichen Farboptionen angezeigt. Vier Kriterien also, anhand derer man eine Entscheidung treffen kann.
Abbildung 3: Darstellung der Kategorie Badelatschen bei Otto.de
Hat man sich für eines der Produkte entschieden und bewegt die Maus über das entsprechende Feld, um zur Produktseite (mit ausführlicheren Informationen) zu gelangen, erscheint im oberen rechten Feld die Option "ähnliche Artikel" - die übrigens meist nicht einmal wahrgenommen wird. Weitere ca. 300ms später blendet die eCommerce Software noch die verfügbaren Schuhgrößen – allerdings leider erst zu einem Zeitpunkt, an dem der durchschnittliche Shopper bereits den Entschluss gefasst hat, zu klicken, bzw. der Klick bereits erfolgt ist.
Für einen selbstbewussten oder neugierigen Einkäufer ist das alles kein Problem.
Die EEG Daten von Balance-Typen zeigen jedoch eindeutig, dass das "Mehr" an Information nicht positiv, sondern negativ wirkt – weil es den Entscheidungsprozess unterbricht. Das menschliche Gehirn braucht gewöhnlich nur wenige 100 Millisekunden um zu entscheiden, ob es einem Reiz positiv oder negativ gegenübersteht, und genau innerhalb dieses Zeitfensters verändert sich bei Otto.de der Reiz ganze zweimal.
Keine gute Grundlage, wenn man es mit unsicheren Entscheidern/Balance-Typen zu tun hat.
Neurowissenschaftliche Studien wie die Beschriebene sind in der Lage aufzudecken, welche Informationen den Kunden zum Kauf motivieren und somit als "sales driver" fungieren. Beispielsweise scheint die Ergänzung von produktspezifischen Informationen durch Werbebanner, die allgemeine Serviceversprechen kommunizieren (kostenlose Lieferung oder 0% Finanzierung wie bei Otto.de) eine sehr gute Idee.
Genauso können aber auch Schwächen im Shopdesign aufgedeckt werden. Beispielsweise scheint eine feste Integration der Zoomfunktion in das Pagedesign, wie von Zalando.de gewählt, besser akzeptiert zu werden, als eine Überlagerung der zuvor präsentierten Informationen nach dem Vorbild von Otto.de.
Abbildung 4: Zoomfunktion auf der Produktdetailseite bei Otto.de
Neurowissenschaftliche Methoden ermöglichen es, die gesamte Customer Journey explorativ zu beleuchten. Zusammen mit der Erhebung von Motivprofilen geben sie detailliert Aufschluss über spezifische Stärken und Schwächen des Designs und helfen dabei wichtige sales driver zu identifizieren.
Ergebnisse, die für sich allein stehen. Oder Grundlage des nächsten A/B Tests sind.
Veröffentlicht am Sep 7, 2016 von Benny Briesemeister