Aufmerksamkeit, Emotionen, Brandaufbau, Weltfrieden: So mancher Online Marketer traut Storytelling so ziemlich alles zu. Kann das Erzählen von Geschichten das alles wirklich?
Wenn der katalanische Motorradfahrer Joan Rojas zu einer Tour aufbrach, band er sich immer aufgeschnittene Militär-Unterhosen um den Hals, damit er es schön warm hatte. Allerdings sahen diese weder gut aus und noch waren sie angenehm zu tragen. Da der Spanier aus Igualada kommt, einer Gegend bei Barcelona die für Strickfabriken bekannt ist, entwickelte er monatelang dünne Röhren-Tücher in wilden Farben um sich vor Wind und Kälte zu schützen. Diese lies er überdies so stricken, dass sie nicht einmal eine Naht hatten und deshalb besonders angenehm um den Hals, den Kopf und sogar ums Handgelenk passen.
Ola! Es geht um die Originalen Buff-Tücher. Und zu diesen habt ihr jetzt eine Geschichte, die ihr nie mehr vergessen werdet. Aus einer bunten Stoffröhre ist für Euch jetzt ein emotional besetztes Produkt geworden. Da gibt es einen sympathischen Typen, der aus einer Not heraus etwas Neues entwickelt. Etwas, das wir alle mal brauchen können. Falls ihr mal wieder einen Schal kauft, denkt ihr vermutlich an einen Biker mit Unterhose um den Hals und greift vermutlich eher zu einem Original-„Buff“ als ihr das noch vor wenigen Sekunden getan hättet.
Abbildung 1: Problem gelöst, Firma gegründet: Joan Rojas bei den „Vorrecherchen“ zum Buff-Tuch
Das ist die Macht einer Geschichte, einer Story: Wenn sie lesenswert und ein bisschen ungewöhnlich ist, unterhält sie die Besucher einer Webseite nicht nur, sondern verankert Wissen und schafft die Möglichkeit, den USP oder die Authentizität eines Unternehmens zu vermitteln.
Nun, das ist ein Beispiel von Storytelling. Aber leider können wir als Online Marketer nicht immer das große Rad drehen und Firmen gründen. Viel zu häufig sitzen wir vor einer lahmen Kategorie-Seite und rätseln, was wir über „Schaufel" schreiben könnten. Auch da gibt es manchmal Geschichten. Manufactum schreibt etwa:
"Gern baut man ja am Strand auch mal eine Sandburg – sofern man eine geeignete Schaufel hat. Diese solide Aluminiumschaufel wurde als Lawinenschaufel für die Schweizer Armee hergestellt – ihr Fertigungsjahr (zwischen 1930 und 1950) ist auf dem Schaufelblatt eingestanzt – und dort auch benutzt; eventuelle Gebrauchsspuren beeinträchtigen keinesfalls ihre Funktionalität.“
Na gut, dafür braucht man natürlich auch Produkte, die Geschichte haben. Doch selbst die Kategorie „Strand“ ist bei Manufactum nett beschrieben:
"Mit Entstehen der ersten Seebäder in Europa entwickelte sich die Badekultur schnell zum sommerlichen Freizeitvergnügen, und heute sind für viele Strand und Meer ebenso unverrückbares Urlaubsziel, wie es für den leidenschaftlichen Wanderer die Berge sind. All den Strandenthusiasten bieten wir das Rüstzeug für die Sommerfrische an der See – doch sind Faltstuhl und Schaufel, Bekleidung und Sonnenbrille natürlich nicht nur auf den maritimen Einsatz beschränkt.“
Ich weiß nicht, was der Conversion-Optimierer dazu sagt - aber ich habe mir das gerne durchgelesen.
Abbildung 2: Mehr als eine Schaufel - die Story der Manufactum-Schaufel
Also Storytelling im Marketing ist, wenn ich die Geschichte HINTER dem Produkt kenne und erzähle. Natürlich nur, wenn es eine Geschichte gibt...
Aber lasst Euch von durchgedrehten Hype-Evangelisten nichts vormachen: Storytelling ist nicht überall und bei jedem Text die richtige Lösung. Es muss nicht jeder Vorgang in eine Heldenreise gequetscht werden. Und Du brauchst auch nicht immer alle fünf Elemente einer Story:
der Protagonist (der Held),
sein Ziel (das er – emotional – unbedingt erreichen will),
der Antagonist (sein Gegner, oder ein starker Widerstand),
eine Botschaft (die „Moral“ von der Geschicht’),
ein Plot (also z.B. „Einleitung, Hinführung, Höhepunkt, Auflösung“).
Abbildung 3: Eine Möglichkeit, den Plot zu bauen: Das klassische Drama.
Manchmal reicht es auch schon, wenn man eine dröge Firmenbeschreibung mit einigen dieser Elementen aufpäppelt. Hatten die Gründer der Firma vielleicht eine Mission? Gegen welche Widerstände mussten sie sich durchsetzen? Sind das vielleicht Widerstände, die wir alle kennen (unsinnige Gesetze, übermächtige Konkurrenz u.s.w.)?
Wenn Du zum Beispiel das „nofollow“-Attribut erläutern willst, kannst Du einige Teile dieses Ratgebers mit Storytelling aufpeppen. Dann kannst Du beschreiben, wie der Protagonist (muss ja nicht immer ein sympathischer Held sein) Google sich mit einem riesigen Teil seines Algorithmus den Backlinks verschrieben hat - und zunächst versucht, nicht-redaktionelle Links zu verbieten. Aber damit scheitert selbst dieser Konzern, weil bezahlte Links natürlich an vielen Stellen notwendig und sinnvoll sind. Und wie man Mountain View dann auf die Idee kommt, mit einem Attribut im Link-Tag den Webmastern die Möglichkeit zu geben, einen Link zu entwerten. Die Geschichte könnte sogar noch weiter geführt werden (Link-Sculpting und was daraus wurde).
Abbildung 4: Wikipedia über „nofollow“. Kann man das nicht netter beschreiben?
Es ist natürlich gut, wenn Du einen sympathischen Protagonisten und einen bösen Antagonisten hast. Hilfreich ist auch, wenn es ein Ziel gibt, dass der Protagonist mit aller Gewalt erreichen will (oder muss). Eine Botschaft, na klar, gehört auch dazu. Aber nicht alles muss wirklich wie aus Grimms Märchen klingen. Überlege, wie Du Deinen Eltern erklärst, welchen Job Du tagtäglich machst. Das erzählst Du ja auch nicht in Bulletpoints, sondern beschreibst Situationen, sprichst von Menschen und deren Reaktionen oder wie Du es geschafft hast, eine Webseite zum Erfolg zu bringen. Wenn Deine Eltern das verstehen - warum dann nicht Deine Kunden?
Aber Vorsicht: Storytelling ist kein Allheilmittel. Wenn es zum Beispiel um vergleichbare Produkte mit technischen Rahmendaten geht, sind Bulletpoints eine super Idee. Vergiss niemals, dass es manchmal auch ganz hilfreich ist, einfach mal schnell zur Sache zu kommen. Viel Text ist keine Qualität an sich - und auch Google zählt schon lange nicht mehr die Wörter einer Webseite. Dafür ist die Suchmaschine zu klug geworden. Merke: Herumlabern ist out, gezieltes Storytelling ist in.
Lasst uns über Online Marketing reden: Wenn hier ein Beitrag über Storytelling steht, wirft das natürlich die Frage auf, ob dieses für die Webseite nützlich ist. Und, ja, das ist es:
1. Geringere Bouncerate: Wenn Du es schaffst, die User mit einem tollen Einstieg zu fesseln, werden sie Deine Seite natürlich nicht gleich wieder verlassen.
2. Längere Verweildauer: Und sie werden natürlich länger bleiben. Vor allem, wenn Du es schaffst, mit Text, Bildern und vielleicht Videos einen Spannungsbogen zu basteln, dem sie gerne folgen.
3. Semantik in den Inhalten: Wer erzählt, verwendet im Idealfall die richtigen Wörter und stellt einen Sinnzusammenhang dar. Und das ist ja das, was wir mit Semantik meinen und was auch die WDF*IDF-Tools gerne mögen.
4. Chancen für den Longtail: Außerdem wirst Du durch diesen Sinn-Zusammenhang auch einige Longtail-Chancen in Deine Inhalte einbauen. Vielleicht wirst Du dann zu Begriffs-Kombinationen gefunden, an die Du früher niemals gedacht hättest.
Es spricht also einiges für Storytelling. Allein: Es braucht Zeit und Übung. Deshalb fang nicht einfach an und versuche, hinter jedem und allem eine Geschichte hervor zu zerren. Sondern baue es dort ein, wo es seine Berechtigung hat und möglichst leicht fällt. Hier ein paar Ideen:
Hast Du eine „Über-uns“-Seite? Fange dort an. Erzähle, wie es zu diesem Web-Projekt gekommen ist und was Du bisher und sonst getan hast.
Welches Problem lösen Deine Produkte? Vielleicht ist ein Problem dabei, das jeder kennt?
Gibt es Anwender-Stories? Vielleicht sogar welche, die beispielhaft für viele stehen?
Was ist Deine Vision? Kannst Du diese in Worte fassen?
Ja, Storytelling ist eine Fähigkeit und häufig eine sehr gute Idee. Ich freue mich darauf, wenn Ihr mir hier Eure Geschichten erzählt und was daraus wurde. Ich freue mich auch auf gute Beispiele - denn diese sind seltener als man angesichts des Hypes rund um Storytelling vermuten könnte.
Veröffentlicht am Jul 14, 2015 von Eric Kubitz