Ja es gibt sie; Webseiten bei deren Besuch man sich fragt: „Wie zum Teufel können die überleben? Die Seite ist so schlecht gestaltet, da findet sich doch niemand zurecht!“.
Gute Usability ist zu einem Erfolgsfaktor geworden. Webseiten müssen nutzerfreundlich gestaltet sein, um im Wettbewerb überleben zu können. Sie müssen garantieren, dass ihre Besucher schnell und effektiv die Ziele erreichen, die sie auf die Webseite geführt haben. Denn anders als beispielsweise im stationären Einzelhandel kostet es online nicht viel, allenfalls zwei, drei Klicks, und eine Alternative ist gefunden.
Keine Webseite kann sich schlechte Usability erlauben. Jede Webseite profitiert von einer hohen Usability... Oder etwa nicht?
Tatsächlich lohnt es nicht für alle Unternehmen ein Redesign anhand von Usability-Kriterien durchzuführen, zumindest nicht von jetzt auf gleich. Usability ist sicherlich ein wichtiges Kriterium für Kunden, wenn es darum geht einen Shop zu bewerten… aber wann bewertet man als Kunde schon mal einen Shop? Doch für gewöhnlich nur, wenn man ihn die ersten Male besucht. Wenn man versucht einen Eindruck davon zu bekommen, ob der Shop zu einem selbst und den eigenen Bedürfnissen passt.
Hat man sich aber einmal für den Shop entschieden, macht man sich keine Gedanken mehr darüber, ob es an der einen oder anderen Stelle noch besser funktionieren könnte. Ob es einen einfacheren, schnelleren, effizienteren Weg gibt.
Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Er gewöhnt sich an alles.
Wird zum Beispiel in der eigenen Küche etwas umgeräumt, kann die neue Sortierung noch so durchdacht und logisch sein – instinktiv sucht man doch immer zuerst an der Stelle, an die man sich gewöhnt hat und an der man das Gesuchte vermutet. Bisweilen wochenlang. Stets ohne Erfolg. Ich ducke mich beispielsweise bis heute an einer Stelle im Gästezimmer, an der vor ein paar Monaten eine Lampe zu tief hing.
Und genau das kann zu Problemen führen.
Wenn wir einen Shop das erste Mal betreten, sei es in der digitalen oder in der analogen Welt, schätzen wir es sehr, wenn der Shop dazu beiträgt, schnell ans Ziel zu kommen. Usability ist attraktiv – allerdings, wie angedeutet, vor allem für Neukunden.
Onlineshops, die ihre Umsätze vornehmlich über Bestandskunden generieren, haben es hingegen deutlich schwerer, eine gute Usability zu gewährleisten, weil sich ihre Kunden relativ schnell an die Gegebenheiten gewöhnen und dann bestimmte Abläufe schlichtweg erwarten – ohne dass ihnen das bewusst ist. Die Shop-Umgebung, mit all ihren Macken und Unzulänglichkeiten, ist ihnen mit der Zeit sprichwörtlich ans Herz gewachsen. Werden immer wieder „kleine“ Updates gemacht, die nicht großartig in den erlernten Ablauf eingreifen, ist das kein Problem.
Nicht selten gibt es aber einige Website-Dinos, die es verpasst haben, „auf dem neuesten Stand zu bleiben“, wie es so schön heißt. Und ihre Kunden hat es nie wirklich gestört.
Das sind die Webseiten, die man als Neukunde zweimal besucht: zum ersten und zum letzten Mal.
Und wenn die Betreiber dieser Webseiten irgendwann feststellen, dass ihre Neukundengewinnung nicht so läuft, wie sie sich das vorstellen, kommt schnell die Idee eines Relaunches, natürlich nach allen Regeln der Usability-Kunst. Leider werden damit nur selten so schnell Neukunden gewonnen, wie Bestandskunden vergrault.
Es ist eine Sache, wenn man in seine Küche geht, beispielsweise einen Topf sucht, und dann feststellt, dass man gestern umgeräumt hat. Selber schuld, man weiß ja, wo der Topf hingekommen ist. Zuckt kurz mit den Schultern und nimmt den Topf aus der anderen Schublade.
Was aber, wenn jemand anderes den Topf umgeräumt hätte, ohne vorher Bescheid zu sagen? Wenn man also in seinen liebgewonnenen Onlineshop geht, und nichts mehr findet? Dann ist das ärgerlich. Aber verkraftbar.
Wenn der Onlineshop zudem aber auch noch ganz anders aussieht, als erwartet – was hat er dann noch mit dem liebgewonnenen Shop zu tun? Wenn das Einkaufserlebnis ein anderes ist, die Suche sich schwierig gestaltet (nicht, weil sie unlogisch ist, sondern weil ein anderer Kaufprozess gelernt wurde), wenn eigentlich gar nichts mehr so ist, wie es war… dann ist das richtig ärgerlich. Und Kunden lassen ihrem Ärger dann gern freien Lauf – und suchen sich eine Alternative.
Nicht wenige Onlineshops kennen das Problem. Sie schaffen ein neues Design, das objektiv besser ist, als das alte – und es kostet sie Kunden, weil es subjektiv schlechter ist. Was tun?
Am einfachsten ist es, das Ganze gar nicht erst so weit kommen zu lassen: Durch kontinuierliches Updaten mit kleinen Verbesserungen haben die Nutzer einer Webseite die Chance, sich an Änderungen zu gewöhnen. Einen Schritt nach dem anderen, am besten so klein, dass sie fast gar nicht auffallen. Dann verzeihen Kunden Veränderungen.
Dann verzeihen Kunden auch, wenn sie nicht alles sofort finden. Weil es immer noch ihr Shop bleibt, zumindest im Kern.
Manchmal sind große Veränderungen aber unausweichlich. Weil zuvor keine Zeit war. Weil andere Dinge zunächst wichtiger schienen. Weil die Architektur die angestrebten Veränderungen nicht mehr zulässt. Wenn es so weit gekommen ist, wird die Gelegenheit gern genutzt, um einen Rundumschlag zu machen – und auch das ist eigentlich kein Problem, wenn der Kunde nach dem Relaunch nicht das vertraute Gefühl verliert. Die Sicherheit.
Hier setzt Neuromarketing an. Der Einsatz von Eyetracking zur Weboptimierung sollte mittlerweile ja hinlänglich bekannt sein, ermöglicht er doch zu erkennen, wie sich Benutzer auf einer Webseite orientieren. Vor allem aus dem Vergleich von neuem und altem Design, sowohl an Neu- wie auch als Stammkunden, lässt sich schön erkennen, wo loyale Stammkunden “anders abbiegen” würden. Dies gibt schonmal einen ersten Hinweis darauf, wo Probleme liegen könnten.
Allerdings werden sie, wenn sie das alte Design gut kannten, oft falsch abbiegen.
Um jetzt noch erkennen zu können, welche Irrwege verkraftbar sind, welche eventuell sogar positiv aufgenommen werden (“Oh, das hätte ich so nicht erwartet… schön gelöst!”) und welche tatsächlich eine negative Wirkung entfalten und daher letztendlich Kunden kosten, reicht eine einfache Befragung meist nicht aus. Warum? Weil uns zwar sehr gut der zwei oder drei großen Probleme bewusst werden, die uns am meisten stören - aber darüber die vielen Kleinigkeiten vergessen. Befragungen sind ein guter Ausgangspunkt und spiegeln immer einen Teil des Gesamtbildes wider - aber eben nur einen Teil...
Durch die Kombination von Eyetracking mit verschiedenen physiologischen Verfahren, beispielsweise EEG oder der Messung von Aktivität des sympathischen Systems durch die Schweißreaktion der Hand (wie sie auch in den USA beim Lügendetektor zum Einsatz kommt), lässt sich nicht nur herausfinden, welche Informationen der Benutzer verarbeitet, sondern auch wie diese Informationen wirken. Richtig angewandt kann man so erfahren, welche Designelemente des neuen Designs einen positiven Effekt auf das Einkaufserlebnis haben werden, und wo die Veränderungen das Gegenteil bewirken - und zwar für jeden einzelnen Blickpunkt des Benutzers. Im besten Fall erhält man also sehr detaillierte Informationen darüber, wo das Redesign seinen Zweck erfüllt, und wo noch einmal nachgebessert werden muss.
Erfahrungsgemäß sind es viele Kleinigkeiten, die den Benutzer im ersten Moment abschrecken, und eine Handvoll größerer Effekte, die es zu vermeiden gilt. Je nach Vorarbeit und Ausgangslage reicht es dann, das Design nochmals anhand der Nutzerdaten zu optimieren oder das Re-Design in mehreren Schritten durchführen, um den Kunden, auch den treuen Bestandskunden, behutsam an die Änderungen gewöhnen.
Ganz ohne Shitstorm.
Veröffentlicht am Jan 26, 2017 von Benny Briesemeister